Wie viel Geduld braucht der Wandel? ZWEITER TEIL

Die große Transformation hat sich (noch) nicht in der von mir oder uns erwarteten oder erwünschten Weise und Geschwindigkeit gezeigt. Weder hat sich der “Hauptstrom” (Mainstream) entscheidend in Richtung Lebensfreundlichkeit gewendet, noch haben die “Wandelklumpen” (Netzwerke und Projekte mit alternativer Ausrichtung) aus meiner Perspektive bislang das eingelöst, was sie versprochen haben.

 

Braucht es einfach noch Zeit, Geduld und Beharrlichkeit? Dafür spricht, dass hohe Geschwindigkeit eines der Elemente ist, die uns in die Bredouille geführt haben, weil sie den Blick verengt und die spürende Verbindung behindert. Oder ist die Geschichte vom Großen Wandel, die Hoffnung auf ein neues Goldenes Zeitalter eine Wunschvorstellung, die immer wieder zum Scheitern verurteilt ist? Schauen wir uns die Entwicklungen der letzten Jahre in dieser Hinsicht genauer an!

 

Auf der Bühne des “Hauptstroms” ist offenkundig geworden, dass es schier unüberwindliche Beharrungskräfte gibt, die eine verhängnisvolle Art des Sehens auf “die Menschen und die Welt” auf die Spitze treiben wollen — die also als Fortschritt auftreten, der aber in Richtung weiterer Entfremdung zeigt. Im Bildungsbereich ist der Fokus auf Messbarkeit noch einmal verstärkt worden und zwar Messbarkeit anhand von Normen, die der Individualität des Menschen zuwider laufen und die sich an Verstandes-Idealen und nicht an natürlichen Prozessen orientieren. Die Vernutzung der menschlichen und nicht-menschlichen Natur schreitet voran und kein guter Wille scheint daran etwas ändern zu können. Im Gegenteil: der gute Wille ist häufig ein Antreiber genau der Entwicklungen, die er bekämpfen will! Konkret an meinen Erfahrungen mit Schule als Vater und als externer Workshop-Anbieter zeigt sich, dass es den Versuch gibt, Menschlichkeit zu verstärken, ohne an den grundlegenden Prämissen etwas zu ändern — und das ist schlichtweg unmöglich; es führt zu einer Addition, die die Lage verschlimmert. Schülerinnen und Schüler bekommen also zusätzliche Aufgaben und Angebote, ohne dass an der Grundstruktur gerüttelt wird — werden derart mit Anforderungen überschüttet, dass es schwer für sie ist, ihrer Entwicklung Raum zu geben. Schule hilft also häufig nicht, die individuellen Talente zu spüren und zu leben, sondern behindert das massiv! Dasselbe ist in der Arbeitswelt zu sehen: der Trend geht zu immer mehr Aufgaben für einen Arbeitsplatz in immer weniger Zeit. Das resultiert nicht (nur) daraus, dass es “böse” Beharrungskräfte gibt, sondern aus der Logik des Wachstums, die unserem Wirtschaftssystem eingeschrieben ist — und die verwandelt werden MUSS, um wirklich menschengerechte und naturverbundene Strukturen hervorbringen zu können. So gesehen ist ein bisschen Wandel schlimmer als gar keiner, weil die Zahl der zu absolvierenden Aufgaben dadurch steigt. Veränderung, die nur addiert, ohne den Mut zu haben, etwas zu lassen, überhitzt die Welt noch stärker!

 

Die “progressiven Beharrungskräfte” verändern also sehr viel, aber da sie die destruktiv gewordenen Grundprinzipien unverändert lassen, findet keine echte Transformation statt, nur immer tiefer greifende Zerstörung von Lebensgrundlagen. Das führt zu Situationen, die extrem widersprüchlich wirken. Im Schulsystem gibt es längst Erkenntnisse, wie Menschen am Besten lernen — aber diese werden konsequent missachtet, da zu ihrer Umsetzung echte Veränderung stattfinden müsste. Wider besseren Wissens wird an einem Kurs festgehalten, der sich als dysfunktional erwiesen hat. Dasselbe gilt im Arbeitsleben — gerade im Sozialbereich ist die (Selbst-)Vernutzung von Arbeitskraft massiv und menschliche Beziehungen (weswegen die meisten Menschen in den Sozialbereich gegangen sind) werden systematisch vernachlässigt zugunsten von Kontrollaufgaben (Bürokratie). Das Phänomen zeigt sich in allen Lebensbereichen, zum Beispiel in der Archäologie, in der an einer zunehmend unhaltbaren Geschichte der Menschheit festgehalten wird, anstatt sich für neue Erkenntnisse zu öffnen — die wiederum aus den von dieser Wissenschaft gefundenen Artefakten gespeist werden. “Es darf nicht sein, was nicht sein darf.” “Lieber erblinden wir und leben eine Lüge, als das gewohnte Denkgebäude in Frage zu stellen.” Je weniger etablierte Geschichten zu erklären vermögen, desto abwertender und arroganter kommt deren Verteidigung daher.

 

Die Unfähigkeit oder den Unwillen Logiklöcher im Ausmaß des Baikalsees zur Kenntnis zu nehmen zeigt sich natürlich ebenso in Politik und Journalismus und Wissenschaft. In der “Corona-Zeit” empfanden sich Medien und Menschen als kritisch und ergebnisoffen in ihrer Weltwahrnehmung, die konzentriert auf einen winzigen Weltausschnitt gestarrt und alles außerhalb dieses Ausschnittes als irrelevant oder böse gebrandmarkt haben. Es haben sich Menschen und Institutionen in einer Menschenliebe gesonnt, die voller Hass gegen Andersdenkende war, es wurde ein Gesundheitsverständnis propagiert, das in seiner Engführung schlichtweg krank ist und krank macht. Eckhart Tolle hat das (in meiner Erinnerung) in etwa so formuliert: Intelligenz ohne Weisheit ist dumm und gefährlich.

 

Dogmatismus und ein progressives Weltbild, Arroganz und Ignoranz gehen also Hand in Hand dieser Tage. Und es ist eine große Herausforderung, nicht selbst in die Falle des “ich weiß es besser” zu tappen — und “dennoch” oder gerade deswegen auf das eigene Gespür zu vertrauen UND es immer wieder zu überprüfen.

 

Aber auch die “Wandelprojekte” waren vielfach vor dieser Art des “betreuten Denkens” nicht gefeit. Erkenntnisse über die Funktionsweisen von Politik, Wissenschaft und Journalismus unter Bedingungen des fortgeschrittenen Kapitalismus wurden einfach “vergessen” und angesichts der Krisen war das große Vertrauen in externe Autoritäten angesagt — progressive Projekte und Parteien waren häufig die Treiber einer verstärkten Zugriffspolitik auf den einzelnen Menschen, dessen eigenes Gespür als irrelevant erklärt wurde und erklärt wird. Bei klassisch progressiven Kräften ist das ja folgerichtig — wenn unter Fortschritt ein “more of the same” verstanden wird, wenn mit der “real existierenden Wissenschaft” gegen den Klimawandel gekämpft wird — aber auch Wandelprojekte, die sich einer fundamentalen Transformation unseres Selbst- und Weltverständnisses verschrieben haben, waren nicht immer eine sichere Bank für Vielfalt und Eigen-Sinn im Rahmen einer wirklich gefühlten Einheit des Seins.

 

Das schmerzt, es verunsichert und es enttäuscht.

 

Aber es zeigt sich dadurch, dass noch tiefere, noch höhere Schichten unseres Seins angenommen und angesehen werden wollen, um wirklich Raum für Verwandlung zu geben. Dass es nicht nur nicht genügt, wenn wir mit aller Kraft für den Wandel gehen, sondern dass es kontraproduktiv sein kann, vor allem dann, wenn unsere Energie aus der Vermeidung kommt, aus der Vermeidung von Unsicherheit, dem Unwillen, den Vertrauensverlust gegenüber etablierten Autoritäten wirklich zu vollziehen, der Angst vor dem Herausfallen aus Zugehörigkeiten, der Vermeidung von Schmerz und Trauer im Zusammenhang mit dem Verlust von Illusionen. Wenn zu große Bereiche unseres (Bewusst-)Seins okkupiert sind von unhinterfragten Glaubenssätzen, wenn wir (zu) große Bereiche unserer Selbst meiden, aus Angst vor den Gefühlen, die in ihnen gespeichert sind, dann werden wir nicht zu Gefäßen des Wandels, sondern zu Agenten destruktiver Muster. Dann wird selbst die Geschichte der großen Transformation zu einer Flucht — einer Flucht vor dir selbst.

 

Damit sollen die Verdienste der Wandelprojekte nicht geschmälert werden, sondern die Erwartungen an sie in einer passenden Art gestaltet werden, damit sie auch wirklich wirksam werden können: Wandelprojekte sind NICHT die Verwirklichung eines Traums, sie sind NICHT die Umsetzung der von ihnen postulierten Werte, sondern sie sind Gefäße, in denen die herkömmliche, destruktiv gewordene Logik und die Logik des Herzens miteinander in Berührung kommen, in offenen Konflikt kommen können, in denen die Widersprüchlichkeiten, die im “Hauptstrom” weggedrückt werden, voll zur Entfaltung kommen können — und DADURCH werden sie zu echten Transformatoren. Menschen, die in solchen Projekten leben und arbeiten, sollten das wissen, damit sie nicht in Zynismus oder Verleugnung kommen müssen — ihre Arbeit ist gar nicht genug zu schätzen! Denn sie haben sich dafür entschieden, die scheinbar unüberbrückbaren Widersprüche zwischen dem Hauptstrom und der Unterströmung, die mit dem Leben fließen will, in sich zu erfahren! Wenn sie allerdings glauben, in und durch ein Wandelprojekt, sei es eine alternative Schule, ein nachhaltiges Wohnprojekt, ein künstlerisches oder politisches oder wirtschaftliches Projekt außerhalb des Hauptstroms diesem ENTKOMMEN zu können, werden sie eine bittere Enttäuschung erleiden. Und diese muss dann wirklich erlitten werden, damit sie fruchtbar werden kann und nicht wieder ein “Rebellen-Projekt” Teil eines neuen oder alten “Imperiums” wird.

 

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