Unverstellt

 Was könnte naheliegender sein, als die eigenen Gefühle zu fühlen, Gedanken zu denken, Empfindungen zu spüren – und sie möglichst unverstellt mit „der Welt“ zu teilen; sie jedenfalls als Orientierung für sich selbst zu nehmen? Wieso, zum Teufel, ist das aber so selten der Fall und ich finde mich oft genug in einem Irrgarten oder Versteckspiel wieder? Und ich bin da sicher keine Ausnahme!

 

Alles Schwindel oder was?

 

„Der Wahnsinn der Normalität“, von Arno Gruen geschrieben, war für mich vor gut 20 Jahren ein Augenöffner. Wie stark unsere Normalität durch die Verdrängung und Unterdrückung der eigenen Wahrnehmungen und Bedürfnisse konstituiert ist! Die Seiten, für die wir uns nicht geliebt fühlen, spalten wir ab, wir sperren sie in den Keller und bauen uns eine Fassaden-Identität auf, ein „falsches Selbst“, das sich vor allem an (vermuteten) äußeren Erwartungen orientiert. Wir spielen „den Anderen“ vor, jemand anderer zu sein, als wir sind, bis wir selbst nicht mehr wissen, was wir wollen, brauchen und fühlen. Dieser „Verrat am wahren Selbst“ weckt unweigerlich (Selbst-)Hass, Wut und Verachtung – und diese Gefühle werden wiederum auf „Feinde“ geworfen, die in irgendeiner Weise das repräsentieren, was wir abgespalten haben, die schwach sind oder aggressiv oder zu frei oder zu dumm oder was auch immer sonst wir für unakzeptabel halten. Gewalt können wir vielfach gar nicht mehr als Gewalt wahrnehmen, weil wir es so gewohnt sind, uns selbst Gewalt anzutun und unbotmäßige Regungen routinemäßig unterdrücken. In diesem Lichte wird auch verstehbar, wieso Politiker, die maskenhaft oder boshaft agieren, so einen Zulauf haben: Ein falsches Selbst orientiert sich „gerne“ an einem anderen, möglichst mächtigen falschen Selbst, das ebenfalls die eigenen unsicheren Seiten verleugnet und überspielt. Der „Deal“ lautet: Du übersiehst „meins“ und ich überseh` „deins“.

 

I don`t know how to love me

 

Ich möchte nicht der Verführung erliegen und wieder auf „die Anderen“ zeigen. Wie ist das bei „uns“, bei mir? TAU und verwandte Felder stehen für eine Kultur der Verbundenheit und Authentizität. Eine neue Bewusstheitskultur. Als Ausrichtung ist das ganz wunderbar! Zu glauben, das sei schon weitgehend gelebt und verwirklicht, halte ich für eine Schimäre, ein Trugbild. Das ist kein Vorwurf, eher im Gegenteil. Nehmen wir das Weltverbessern her, ein großer Antrieb, gespeist aus dem Schmerz über herrschende Zustände und dem Schon-erfahren-Haben, wie kurz auch immer, wie es sich „richtig“ anfühlt, wenn mensch ganz bei sich angekommen ist, in Gemeinschaft oder „allein“. Aber der Impuls, die Welt zum Positiven zu verändern, führt sehr leicht weg von einem*r selbst, auch wenn ich bei mir selbst anfangen will mit dem Wandel. Weil doch vor allem auf die Außenwirkung Wert gelegt wird und da „je mehr desto besser“ gilt; oder weil ich die Seiten an mir, die auf Weltverbesserung pfeifen, bekämpfe; oder weil ich im Dienste der guten Sache auf Freundlichkeit gegenüber mir selbst und anderen vergesse; und weil es nie genug ist, nie genug sein kann. Die „Welt“, der „Mensch“ gehört verbessert – so wie es ist, ist es nicht gut? Das bedeutet auch, dass ich nicht gut genug bin, so wie ich bin. Die Welt ist nicht in Ordnung; ich bin nicht in Ordnung. So nähre ich einen Unfrieden in mir und trage ihn in die Welt. Wem ist damit geholfen?

 

Dem „Nicht-in-Ordnung-Sein“ steht das „Ständig-überdrüber-Sein“ zur Seite. Wenn ich stets die lichten, strahlenden, erfolgreichen, glücklichen, starken, positiven, optimistischen, furchtlosen Seiten meines Seins hervorheben „muss“, mir selbst und anderen gegenüber, verleugne ich wichtige Teile meiner Menschlichkeit und erschwere wahrhafte Begegnung. Dabei muss ich doch gar nicht großartig oder besonders sein – eben weil ich es bin; wenn ich bei mir bin. Wenn alles, auch das Schäbige, Traurige, Erfolglose, Kraftlose, Unglückliche, Ängstliche sein darf. Wenn das nicht großartig ist!

 

 Näher, mein Gott, zu mir!

 

Ein Beispiel: Ich bin beruflich Teil einer Online-Runde, es ist die Zeit der geschlossenen Geschäfte und abgesagten Veranstaltungen. Bei der Anfangsrunde erzählen wir, wie es uns geht, authentisch, persönlich, offenherzig; diese Art des „Check-in“ gehört mittlerweile glücklicherweise zur Kultur in ganzheitlichen Projekten, Gruppen und Unternehmen. Das hat sich bewährt, stellt Verbundenheit her und einen Raum, in dem Informationen ungefiltert fließen können und mensch letztlich schneller auf einen grünen Zweig kommt. Nach dem Check-in erörtern wir, wie es mit dem Projekt unter den radikal geänderten Umständen weitergeht. Ich bin dabei, aber nicht ganz da; weil ich auf einem brennenden Bedürfnis sitze, einer Angst: Hält der Vertrag? Bekomme ich mein Geld oder zumindest einen Teil davon? Noch radikaler ausgedrückt: Ich spiele den locker und ehrlich Plaudernden, während „mein Kellerkind“ schreit: „Hilfe, ich habe Hunger! Ich brauche etwas! Sicherheit, Klarheit, Geld. Bevor das nicht klar ist, geht es mir nicht gut.“ Warum darf das nicht laut werden, sogar in einem Setting, wo doch „alles“ eingeladen ist? Weil ich es als zu bedürftig, zu egoistisch, zu uncool oder zu unprofessionell halte? Als ich das doch äußern „darf“, zumindest ansatzweise, entspannt sich die Situation merklich, sie wird echter, menschlicher, weniger aufgesetzt.

 

Ein anderes Beispiel, aus meiner Arbeit als Supervisor: Nach einem sehr guten Start wird mir zunehmend langweiliger. Das Team kreist um ein „technisches Thema“, das wichtig ist für den Alltag; es gibt ein Abwägen von Für und Wider, das ich gekonnt moderiere. Ich mache weiter, obwohl ich es zäh finde; Wahrnehmungen dieser Art schiebe ich beiseite, „überzeuge mich selbst“, dass es relevant ist und im Alltag helfen wird, dass ich hier gerade nützlich bin. Ich gehe mir selbst auf den Leim, weil Arbeit ist halt auch manchmal mühsam! Ja, natürlich macht mir nicht alles Freude, was ich mache – aber diese erschöpfende Fadesse ist ein klares Signal, dass ich nicht meinen vollen Beitrag gebe: Der wäre es, den Mut aufzubringen, meine „unerwünschten“ Wahrnehmungen ernst zu nehmen und zu teilen. Wie auch immer das Team das aufnimmt: Das ist meine wirkliche Arbeit – ich zu sein.

 

 Es reicht jetzt!

 

Ich bin immer ich, egal wie ich mich verbiege. Von dem her „passt“ mir die Terminologie richtiges und falsches Selbst nicht so ganz. Aber es macht einen riesigen Unterschied, ob ich meine „natürlichen“ Regungen wahrnehme und ernst nehme! Und dabei bemerke ich, wie selbstverständlich ich sie „wegdrücken“ will oder in ein genehmes Gewand kleiden. Warum nur mache ich das mit mir? Warum machst du das mit dir?

 

Ja, ich schäme mich meiner „Kellerkinder“. Sie sind nicht strahlend und souverän, sie haben gar nichts im Griff und sie fürchten sich vor Schatten und Gespenstern. Und ja, ich bin nicht restlos davon überzeugt, dass es genügt, einfach ich zu sein; dass ich gehalten, getragen, geborgen und genährt bin, vom großen Ganzen, von Gott und der Welt. Ist es nicht evident, dass hier „Krieg“ herrscht, dass es gefährlich ist, sich zu zeigen, dass mensch ständig besser werden muss, um einigermaßen Schritt zu halten, und dass es „am Ende“ vielleicht doch nicht reicht?

 

Ach, hör doch auf damit! Hör auf damit, Michael, nimm es an, das Leben, wie es dir gegeben ist! Das reicht, das ist mehr als genug, das ist schwer genug.

 

Und ja, das ist ein Weg, da kannst du nicht einmal den Schalter drücken und das war es dann. Es erfordert lauschen und da sein und dich weiten und dich stellen und dir und anderen vergeben, dass wir nun mal sind, wer und wie wir sind. Das tut weh, das ist viel Unsicherheit, da geht es nicht ums Immer-im-Frieden-Sein, sondern erst mal darum, das Leiden nicht länger zu vermeiden. Das schreibt ja auch Arno Gruen, dass der Schmerz kommt, wenn mensch wieder spürt; der Schmerz über das ursprüngliche Nicht-genug-geliebt-Werden, Zurückgewiesen-Werden und um den Verrat am eigenen authentischen, fühlenden Selbst. Jede*r kennt diesen Schmerz, daran führt kein Weg vorbei.

 

Ich teile allerdings seine Einschätzung nicht, dass dies dem Irrweg der Zivilisation zu „verdanken“ ist, dass wir vom guten Weg abgekommen sind, und unterdrückende Strukturen und gefühllose Menschen die Schuld tragen. Ich glaube, das ist der Weg des Menschen, der Weg in und durch die Trennung, und dass dieser Weg bis zu Ende zu gehen ist.

 

Oder anders ausgedrückt: Wenn ich die Härte der Trennung zwischen mir und Gott und der Welt voll erfahre, wenn ich mich diesem Schmerz aussetze, dann enthüllt sich diese Trennung als Illusion. Aber solange ich mich zu retten versuche und die Welt zu retten versuche, solange bleibe ich verloren. Nicht auf ewig natürlich. Wie sagte Eva Maria Radlherr so schön, für deren Begleitung ich mich hier ganz herzlich bedanke: Alle Wege führen zu Gott.

 

Dann ist`s ja gut!

 

Dieser Text erscheint im TAU-Magazin zum Thema RADIKAL. Das ganze Heft mit seinen 76 wohlfeilen Seiten gibt es um nur 8 € hier zu erwerben.

 

Kontakt zum Autor, Michael Nußbaumer, gibt es hier.

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